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Sandra Albrecht

01 - Was ist Kunst?


Kunst Decke Uffizien Museum Malerei
© Foto: Mike Giuliano @ pexels


WAS IST KUNST?

Teil 01. Wie du Kunst für dich nutzen kannst und warum wir mit alten Mythen aufräumen sollten.


Eine Frage, die zunächst sehr einfach erscheint, aber nicht mit einer knappen Definition beantwortet werden kann. Wir alle haben ein bestimmtes Gefühl, eine gewisse Vorstellung davon, doch die Bedeutung von Kunst in klare Worte zu fassen, ist schwierig. Zwar haben wir grundsätzliche Übereinkünfte darüber, was Kunst für uns Menschen bedeutet, aber die Grenzen sind fließend und sorgen immer wieder für Diskurs. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Experten und Expertinnen die Aufgabe übernehmen, zu entscheiden, was als Kunst angesehen wird und was nicht.


Ab dem Moment meiner Einschreibung für ein Kunstgeschichtsstudium, um vielleicht auch so eine Expertin werden zu können, wurde ich von Familie und Freunden damit gepiesackt, Jahreszahlen, Epochenmerkmale und Lebensstationen der Künstlerinnen und Künstler herunterzuspulen. Jegliche Ausflüge wurden zur Prüfungssituation:

„Ist die Kirche aus der Gotik?“

„Was hat sich Beuys denn dabei gedacht?“

Oder meine Lieblingsaufforderung: „So, jetzt erzähl doch mal!“, während wir in einer riesigen Museumshalle standen. Bei mir waren dann schwitzige Hände und Blackout angesagt.

Zugegeben, ich setzte mich unnötig unter Performancedruck, aber ich habe auch feststellen müssen, dass ich nicht besonders gut im Runterspulen von Eckdaten bin.


Das hat mich anfangs sogar zweifeln lassen, ob ich eine komplette Fehlentscheidung getroffen habe. Doch das Studium lief gut. Das lag wohl daran, dass ich Unmengen an wissenschaftlichen Arbeiten schreiben durfte, die meine Gedanken, Interessen und Verknüpfungen beinhalteten. Ich durfte viel selbst denken, und das war einfach gut.


Klar, es gab auch Geschichtsdaten-Junkies, aber die Uni hat dieses Wissen mit zwei bis drei Multiple-Choice-Prüfungen abgefrühstückt, und ansonsten wurde diskutiert, vorgetragen, recherchiert und geschrieben. Es schien, als würde nicht einmal die Universität besonderen Wert darauf legen. Haben wir ein falsches Bild von dem Umgang mit Kunst? Und ist es als Kunsthistorikerin nicht meine Aufgaben zu vermitteln? Seitdem habe ich das Bedürfnis, der Kunstrezeption ein neues Image zu verpassen.


 


Die Rezeption kommt aus dem Lateinischen receptio und bedeutet Aufnahme oder Übernahme fremden Gedanken- oder Kulturguts. In Bezug auf Kunst geht es um die Aufnahme eines Kunstwerks durch die Rezipienten. Das sind Menschen, die Kunst betrachten, hören, lesen usw. Dabei geht es um das Verstehen oder Durchdringen der Arbeit.


She is all that Teenie Film Romanze Make over

Ich habe das Bedürfnis, der Kunstrezeption ein neues Image zu verpassen. Ein Make-over wie in einer Teenie-Romantik-Komödie aus den 90ern, wo die nerdige Hauptfigur nur ihre Brille abnehmen und die Haare öffnen muss, um alle vom Hocker zu hauen. Schauen wir mal, liebe Hallodris, ob wir das hinbekommen. :)


Warum das wichtig ist? Damit mehr Menschen selbstbestimmt und individuell Kunst für sich nutzen können. Und mit nutzen meine ich, einen Nutzen aus ihr zu ziehen, ohne ein Vermögen im Auktionshaus zu lassen oder Jahreszahlen auswendig lernen zu müssen. Wie geht das?


Beginnen wir mit dem viel zu hohen Podest, auf dem bekannte Künstler und Künstlerinnen gestellt werden. Es ist keine leichte Aufgabe für diese, gute Kunst zu erschaffen und auch noch das Glück zu haben, ihre Arbeit vielen Menschen zugänglich machen zu können. Bekannte Künstlerinnen und Künstler haben sich auf jeden Fall Respekt für ihre Arbeit verdient und ihre Leistungen sollen hier nicht geschmälert werden.


Jedoch begegnen uns in der Kunst-Auseinandersetzung oft Biografien, die sich wie Fan-Klub Hymnen anhören. Fan-Klubs mit bestimmten Regeln und Aufnahmebedingungen. Nach dem Motto: Wenn folgende Punkte im Lebenslauf nicht abgedeckt sind, kannst du dich auf keinen Fall als KünstlerIn bezeichnen. 


Vielleicht bin ich damit alleine, aber ich muss ein wenig über die ewig gleichen Geschichten schmunzeln. Sie erzählen von Wunderkindern, die direkt nach der Geburt aus dem Nichts anfingen, perfekt zu zeichnen, zu singen oder Gitarre zu spielen. Anschließend wandelten sie ihren Leidensweg, der oft durch die Ablehnung ihrer Andersartigkeit geprägt war, in unglaublich gute Kunst um, während jede Handlung oder Entscheidung – ob gut, schlecht, moralisch verwerflich oder selbstzerstörerisch – als wegweisender, erleuchtender Geniestreich bedeutungsschwer aufgeladen wird.


Dadurch werden alle Schicksalsschläge zum eigentlichen künstlerischen Motor stilisiert. Deshalb müssen auch alle dankbar sein, dass Künstlern und Künstlerinnen regelmäßig das Leben schwer gemacht wird. Worüber sollten sie sonst Kunst machen?


 

Diese Erzählung halte ich für sehr gefährlich, da häufig psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Suchtkrankheiten mit künstlerischem Talent verbunden werden und Menschen deshalb an diesen festhalten, weil sie glauben, sonst keine gute Kunst erschaffen zu können.


Kreative Berufe sind meist sehr sinnstiftend, was eigentlich viele glückliche Menschen hervorbringen sollte, tut es aber nicht. Dass Leiden und Kunst so eng miteinander verbunden sind, sagt mehr über unseren gesellschaftlichen Umgang mit Kunstschaffenden aus, als dass es KünstlerInnen besonders schlecht gehen muss, um legitime und gute Kunst machen zu können.


Faktoren, die zur Verknüpfung von KünstlerInnen und Leiden beitragen können, sind:


  1. Kunst ist kein sicherer Beruf, der jedoch viel Zeit und Einsatz erfordert.

     Oft entscheiden sich Menschen dazu, „es einfach durchzuziehen“, weil sie zuvor etwas erlebt haben, das die Härte dieser Berufung im Vergleich zu ihrem Erlebten weniger abschreckend erscheinen lässt.


  2. Leiden bringt viele Themengebiete mit sich, die aufgearbeitet werden können.

    Ein oft gehörter Glaubenssatz unter KünstlerInnen lautet: „Ich wüsste gar nicht, worüber meine Arbeiten gehen sollen, wenn es mir gut gehen würde!“


  3. Die Biografien von berühmten Künstlern sind voll von schmerzlichen Erfahrungen, sexuellen Vorlieben, psychischen Abgründen oder Drogenexzessen. 

    Diese Erzählungen verstärken das Klischee, dass Leiden und Kunst untrennbar miteinander verbunden sind.


Wolfgang Amadeus Mozart Portrait Gemälde
© Internationale Stiftung Mozarteum (ISM)

„Okay, vielleicht müssen wir die Verknüpfung von Kunst und Leiden ein wenig auflösen. Aber die Wunderkinder, die gibt es doch!“, denkst du dir vielleicht gerade.


Lass uns kurz über Wolfgang Amadeus Mozart sprechen, das „Ur“-Wunderkind der klassischen Musik: Dass Mozart ein Wunderkind war, ist ein Mythos – und zwar ein besonders geschickter, da er bewusst von seinem Vater Leopold erfunden und genutzt wurde, um seinen Sohn besser vermarkten zu können. Das soll nicht heißen, dass Mozart nicht sehr begabt war. Der Grund, warum wir bis heute von einem unglaublichen Wunderkind sprechen, liegt darin, dass Leopold gutes Marketing betrieben hat. „Mein Wolferl ist ein Wunder“, wiederholte er ständig, um seinen Sohn bei Hofe von anderen musizierenden Kindern abzuheben.


Anscheinend sind ihm die Melodien nur so zugeflogen und er konnte alles fehlerfrei aus dem Kopf zu Papier bringen – eine Darstellung, die mittlerweile widerlegt ist. Mozart hat wahnsinnig hart gearbeitet, um die herausragenden Leistungen vollbringen zu können, die wir heute als „Wunder“ betrachten.


Da der Komponist nach seinem Tod einen Berg Schulden hinterließ, führte seine verwitwete Frau Konstanze das Marketing fort und verwandelte das Wunderkind in ein gottgleiches Genie. Diese gelungenen und genialen Werbestrategien wurden anschließend etwas unreflektiert von der Musikgeschichte übernommen und leben bis heute weiter. Die Mythenbildung soll nach der Entzauberung nicht das Werk kleinmachen, sondern verdeutlichen, dass auch Mozart ein Mensch war und wie entscheidend das Marketing in der Kunst ist.



 

Die Mystifizierung der Künstlerinnen und Künstler zu leidenden Wundern sowie der vermeintliche Druck, nur dann über Kunst sprechen zu dürfen, wenn die Eckdaten stimmen, steht der individuellen Reflexion im Weg.


Dabei könnten wir uns eigentlich entspannen, denn es ist eine Tatsache, dass wir nicht vollständig in ein anderes Individuum eintauchen können. Aus Gründen, die wir nicht verstehen, ist es ein wichtiger Teil des Lebens, dass Menschen sich mit sich selbst und ihrem Inneren auseinandersetzen müssen, da das sonst niemand für uns übernehmen kann. Ich weiß, dass uns das oft schwerfällt – warum also auch noch mit der Kunst anfangen? Ist doch eh schon alles kompliziert genug!


Theater Griechenland Katharsis
© Foto von Alexey Komissarov. Pexels

Aber die Kunst ist ein Spiegel, der sowohl den Zeitgeist unserer Gesellschaft als auch unser inneres Selbst reflektiert – und das auf eine fast magische Weise. Die Auseinandersetzung mit Kunst kann eine Art innere Reinigung bewirken. Die Griechen nannten dies Katharsis.


Katharsis ist ein Begriff aus der griechischen Theater- und Philosophie-Welt. Übersetzt bedeutet er Reinigung und bezeichnet das Ausleben innerer Konflikte. So wie wir unsere Wut durch das Boxen in einen Sandsack kanalisieren können, ist es möglich, unsere Gefühlswelt durch Kunstformen „abreagieren“ zu lassen – zum Beispiel, indem wir bei einem Film Rotz und Wasser heulen.








 
Quellen:

  1. wikipedia.org/wiki/Rezeption_(Kunst), 01.09.2024.
  2. ARD Podcast: Klassik für Klugscheisser. Folge 89. Wer’s glaubt, wird selig - Mythen der Klassik, 2024.
  3. wikipedia.org/wiki/Katharsis_(Psychologie), 01.09.2024.
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